Regeln für den Umgang mit Smartphones werden in der Schule von der Schulkonferenz festgelegt. Die Schulleitung des Max-Plank-Gymnasiums in Saarlouis würde diese Regeln gerne weiter verschärfen. Dazu braucht sie in der Schulkonferenz eine Mehrheit, die sie alleine nicht hat. Die Schüler*innen werden sich kaum ins eigene Fleisch schneiden wollen, also müssen die Eltern überzeugt werden.
Dieses Bild wurde in den Weihnachtsferien1 2 an die Eltern verteilt. Links steht:
Unkontrollierte Handynutzung macht süchtig und gefährdet die Gesundheit.
Offensichtlich soll hier Angst vor Smartphones geschürt wegen, so wie Populisten das heute eben machen. Wer genau für das Bild verantwortlich ist, wollte man mir nicht verraten. Ebenso wenig, wie man mir wissenschaftliche Belege für diese Behauptung nennen wollte.
Zum Glück fallen Schulen unter das Informationsfreiheitsgestz. Ich habe also eine offizielle Anfrage gestellt. Auf meine Frage nach der "Aktenliste oder Stoffsammlungen zum Thema digitale Endgeräte." antwortet Herr Bravo Lanyi:
Wir führen keine Aktensammlung, sehr aufschlussreich sind die regelmäßig erscheinenden Broschüren „Sucht-Hilfe“ von Sucht- und Jugendhilfe e.V., Lübeck oder z.B. die hier einsehbare Studie:
Ernsthaft wissenschaftlich auseinandergesetzt hat sich mit dem Thema also niemand. Schauen wir uns die sehr kurze Liste im Detail an:
Die Webseite des Vereins läßt bei jedem Menschen mit nur einem Funken Medienkompetenz sofort alle Alarmglocken klingeln. Eine kurze Rechecher führt quasi zwangsweise zum Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen. Die Einschätzung ist recht deutlich:
Herr Bravo Lanyi ist einem Verein aufgesessen, der keine nachweisebare Expertise zum Thema besitzt. Der Verein existiert mutmaßlich nur, um Druckerzeugnisse einer GmbH an naive Menschen zu verkaufen. Es stellt sich die Frage, wer hier wen vor dem bösen Internet beschützen sollte. Meine Tochter wäre nie auf die Idee gekommen, diese Webseite ernst zu nehmen.
In meiner Jugend wurden übrigens Computerspiele verteufelt. Davor waren es Fernsehen und Radio. Noch früher sogar Bücher. Wissenschaftlich belegt wurde nichts davon.3 Es waren immer nur Mythen4 alter Menschen, die von der Gegenwart überfordert waren.
Ich hatte mich über das Verbreiten von Fake News beim Ministerium beschwert und eine Richtigstellung gefordert. Man sieht dort scheinbar keinen Handlungsbedarf.
Trotz meiner Beschwerde wurde wenig später ein Brief von Herrn Bravo Lanyi und dem Elternsprecher verbreitet, in dem steht:
Studien zeigen, dass ... [frei erfundene Behauptungen] ... Eine leicht verständliche Studie hierzu kann eingesehen werden unter: [die schon oben erwähnte Studie]
Warum steht hier "Studien" in der Mehrzahl, obwohl Herr Bravo Lanyi in der Antwort auf meine Anfrage nur eine Studie angegeben konnte? Offenbar war auch nur die Überschrift der Studie "leicht verständlich". Liest man nämlich bis zur Überschrift "Limitations", findet man dort folgenden Absatz:
Limitations also result from the sample of our study. First, with 42 test
persons, only a relatively small sample was given. Second, the sample used in
the present research was predominately White (93%), highly educated, and
relatively young (20–34 years). Thus, it is not clear if the present results
can be generalized to the broader population using a smartphone. To investigate
the generalizability of the present findings, more studies on the effect of
smartphone presence should be done, especially concerning a more diverse sample
group.
Für alle, die sich minimal mit Wissenschaft und Forschung auskennen, ist ab hier jede Diskussion darüber, ob sich aus dieser Studie Schlüsse für den Schulalltag ableiten lassen, beendet. Die Vorstellung ist absurd! Hier steht wörtlich, dass noch weitere Forschung nötig wäre, um generelle Aussagen ableiten zu können. Wer die Zusammenhänge genauer verstehen will, findet in Statistics Done Wrong einen guten Einstieg.
Auch hier sah das Ministerium keinen Handlungsbedarf.
An der Publikation gibt es übrigens nicht zu kritisieren. Nature zählt zu den renomiertesten wissenschaftlichen Quellen überhaupt. Es handelt sich bei dieser Veröffentlichung um einen ganz normalen Austausch unter Expert*innen. Ich "jongliere" beruflich regelmäßig mit knapp 150 Millionen solcher Publikationen. Es ist einfach nur so, dass die Schulleitung des MPG die Studie nicht gelesen oder nicht verstanden hat.
Die Schulleitung des MPG versucht Angst vor Smartphones zu schüren, um Regeln nach ihren eigenen Wünschen durchsetzen zu können. Dazu bedient sie sich der heute üblichen "Panikmache", ohne (Stand heute) irgendwelche Belege für ihre Aussagen liefern zu können. Die Elternvertretung scheint dieses Spiel mitzuspielen. Ich denke, es ist an der Zeit, dem Einhalt zu gebieten.
Ich weiß, dass meine Tochter mit dem "bösen Internet" umgehen kann. Ihr Smartphone ist ein mächtiges Werkzeug, mit dem sie souverän und eigenverantwortlich6 umgehen kann. Ich vertraue ihr! Wünschen würde ich ihr ein Bildungssystem, das sie mit zeitgemäßgen Inhalten auf ihr Leben in der Zukunft vorbereitet. Ein Bildungssystem ohne Sexismus und Herabwürdigungen.5
Sollte es Eltern geben, die diesen Standpunkt teilen, würde ich mich über Austausch darüber freuen, wie wir die Schule für unsere Kinder zu einem besseren Ort machen können.
Laut Protokoll der Schulkonferenz vom 26.06.2024 wurde schon damals beschlossen, sich um das "Wegsperren" von Smartphones zu kümmern. Meines Wissens wurde diese Idee nie von der Eltern- bzw. Schüler*innenvertretung an die von ihnen Vertretenen kommuniziert und zur Diskussion gestellt. Nach über einem halben Jahr plötzlich Tatsachen schaffen zu wollen, halte ich für einen bewußten Versuch, das Schulmitbestimmungsgesetz auszuhebeln. ↩
Mein persönliches Highlight aus dem mir zugesandten
Protokoll:
Ich selbst
hätte die Kommunikation der Schule nicht besser auf den Punkt bringen
können. ↩
Pete Etchells hat in seinem Buch Lost in a good game unter anderem zusammengetragen, welche generellen negativen Effekte von Computerspielen wissenschaftliche belegt werden konnten. Spoiler: Keine. ↩
Sucht ist ein komplexes Thema. Die meisten gängigen Vorstellungen sind aber einfach falsch. Ein "schönes" Beispiel ist die überraschende "Heilung" von Vietnamveteranen, die nach gängiger Meinung gar nicht möglich sein sollte, aber wasserdicht belegt ist. Solche Ergebnisse passen natürlich nicht in konservative Weltbilder, bei denen es in der Regel darum geht, Macht und Kontrolle auszuüben. Und nicht darum, Menschen zu helfen. ↩
Auch darüber habe ich mich mehrfach beschwert. Ministerium, Schulleitung und Kollegium sehen keinen Handlungsbedarf. Im Zweifelsfall war alles immer nur ein Witz. Empfindungen von Jungendlichen sind irrelevant. ↩
Ihren Account bei brilliant.org hat meine Tochter auf eigenen Wunsch. Für 9.99 Euro pro Monat wird Mathematik auf einem Niveau erklärt, das Welten über dem der Schule liegt. Vom unfassbar schlechten Informatikunterricht will ich gar nicht erst anfangen. ↩