Anfang der achten Klasse beschwert sich meine Tochter mehrfach über abfällige Bemerkungen einer Lehrkraft. Es ist diese herablassende Art über Jugendliche zu reden, die immer als Einzelfall und mit "Haha, war ja nur ein Scherz!" entschuldigt wird. Schlechte Karten für Eltern.
Im November kommt es zu einem weiteren Vorfall. Meine Tochter berichtet direkt im Anschluss an die Schule davon, noch immer sichtlich erbost:
Ein Junge steht während des Unterrichts auf, nimmt sich ein Taschentuch aus dem Klassenvorrat und möchte sich die Nase schnäuzen. Es ist Erkältungszeit. Die Lehrperson macht ihrem Unmut darüber Luft und weist ihn vor der Klasse zurecht. Dabei fordert sie ihn auf, sich wie ein Mann und nicht wie ein Mädchen zu schnäuzen.
Den offensichtlichen Sexismus kann ich nicht unkommentiert lassen und schreibe folgende Mail, natürlich mit der Zustimmung meiner Tochter:
[ANREDE]
meine Tochter ([NAME]) hat mir heute berichtet, Sie hätten im Unterricht einen Jungen aufgefordert, sich "wie ein Mann und nicht wie ein kleines Mädchen (die Nase) zu schnäuzen". Das ist ganz offensichtlich eine sexistische Aussage, die ich für indiskutabel halte. Ich gehe davon aus Sie sehen das auch so und es handelte sich um ein Versehen.
Klären Sie das bitte mit der Klasse?
[GRUSSFORMEL]
Nach gut einer Woche ohne Antwort bitte ich die Klassenlehrerin sich um den Vorfall zu kümmern. Sie antwortet:
Bisher habe ich [LEHRKRAFT] noch nicht sprechen können, werde mich um die Angelegenheit zeitnah kümmern.
Danach höre ich nichts mehr von ihr, auch auf eine weitere Nachfrage hin nicht. Später wird sie der Schulleitung schreiben:
Herr Domma hat mir 2 Nachrichten geschrieben. Eine davon habe ich beantwortet. Mit [TOCHTER] und [LEHRKRAFT] habe ich gesprochen. Da im Gespräch mit [TOCHTER] die Sache geklärt wurde, habe ich keinen Anlass für weitere Diskussionen mit den betreffenden Schülerinnen und Schülern gesehen.
Meine Tochter hatte den Vorfall im Gespräch bestätigt und auch die abfälligen Bemerkungen angesprochen. Geklärt wurde nichts. Und selbst wenn, wäre es keine Entschuldigung dafür, eine Beschwerde über Sexismus im Unterricht einfach zu ignorieren.
Was folgt, ist ausdauerndes und penetrantes Nachhaken von mir, um der Schulleitung eine Reaktion zu entlocken. Es kommt zu zwei Telefonaten, deren Inhalt ich leider nicht beweisen kann. Nach einer sehr unangenehmen Situation für meine Tochter entschließen wir uns, das Thema vorerst ruhen zu lassen. Ich kann aber folgende E-Mail erzwingen. Sie ist die einzige Reaktion der Lehrkraft, rund sieben Wochen nach meiner Beschwerde.
Sehr geehrter Herr Domma,
vor einiger Zeit habe ich in der [KLASSE] zu einem Jungen gesagt, er solle sich die Nase putzen wie ein Mann und nicht wie ein Mädchen. Selbstverständlich denke ich nicht, dass ein Mann besser Nase putzen kann als ein Mädchen. Es war tatsächlich eine scherzhafte Äußerung, welche die Kinder auch als solche aufgenommen haben. Während meines Unterrichts herrscht eine arbeitssame, aber doch lockere und freundliche Atmosphäre.Sowohl die Kinder als auch ich machen Scherze, und es wird häufiger gelacht.
Sollte ich tatsächlich etwas kritisieren oder ein Verhalten kritisch beurteilen, mache ich keine Scherze. Denn als erfahrene Pädagogin weiß ich, dass in einer solchen Situation Scherze durchaus irritierend oder gar verletzend wirken können. Dass Sie die scherzhafte Äußerung nicht verstanden haben, ist tatsächlich bedauerlich.Dass Sie eine Situation beurteilen, die Sie nicht kennen, da Sie nicht anwesend waren, ist mir unverständlich.
[GRUSSFORMEL]
Die rhetorischen Stilmittel dieser Mail bieten Material für mehrere Blogposts1. Was wollte die Lehrkraft mit ihrer Bemerkung sagen, wenn nicht das Offensichtliche? Wann ist Sexismus lustig? Wer entscheidet, was ein Scherz ist? Ist der Lehrkraft nicht bewusst, dass meine Tochter die Situation beurteilt hat? Darf eine Jugendliche zu einem anderen Urteil kommen, als eine unfehlbare Lehrkraft? Sind die Gefühle und Meinungen von Jugendlichen überhaupt relevant? Fragen über Fragen, die niemand beantworten will.
Schauen wir kurz auf ein paar Zahlen. Eine Google-Suche nach "gewalt gegen frauen zahlen" liefert mir als erste Ergebnisse:
Lustig, oder?2 Aber Sexismus und Diskriminierung betreffen nicht nur Frauen. Die niedrigsten Schätzungen gehen davon aus, dass sich 9% aller Jugendlichen in Deutschland als queer identifizieren. Das sind im Durchschnitt zwei Jugendliche pro Klasse, denen im Jahr 2025 lange überkommene Weltbilder vermittelt werden, die ihnen suggerieren, sie seien "nicht normal".
Der Fairness halber muss ich aber dieses Bild zeigen:
Offensichtlich haben der Schülersprecher, der Elternsprecher, ein Vertreter des Schulfördervereins, eine Personalrätin und die Schulleitung dieses Bild für gut befunden und glauben, damit für die gesamte Schulgemeinde zu sprechen.
Mädchen mit kurzen Haaren? Und als Nächstes spielen sie Fußball, bilden sich ein, Mathe zu können und wollen wählen? Wo kämen wir da hin? Es besteht also zumindest die Möglichkeit, dass Jugendliche, die nicht der konservativen Norm entsprechen, bis zur achten Klasse aussortiert werden3.
Schulen sollten sichere und diskriminierungsfreie Orte für alle Jugendlichen sein. Falls du das auch so siehst, lass es die Schule und das Ministerium wissen. Ohne Druck wird sich nichts ändern4. Wer schweigt, macht sich mitschuldig5.
Vielleicht sollte die Mail im Deutschunterricht besprochen werden? Eigentlich haben Jugendliche ein Mitspracherecht bei der Gestaltung des Unterrichts und der Auswahl der Materialien. Eigentlich ↩
"Lustig" legitimiert grundsätzlich jedes Fehlverhalten. Die Aufforderung "Fresst euer Fressen draußen!" wurde von Jugendlichen gegenüber ihrer Klassenlehrerin als ungemessen kritisiert. Ihre Erklärung war, das sei einfach der Humor der Lehrkraft. ↩
Die Selektion nach Herkunft ist extrem. In dem Fall würde ich aber keine Absicht unterstellen, sondern einfach nur Unwissenheit und Ignoranz. ↩
Das Ministerium ist natürlich über all das informiert, sieht aber kein Problem und keinen Handlungsbedarf. In Zeiten von akutem Mangel an Lehrpersonal will man wohl niemanden vergraulen, Sexismus hin oder her. Schulleitungen schon gar nicht. ↩
Das gilt übrigens auch für ein Kollegium mit über 80 Lehrkräften, die wegschauen. Der Sexismus in diesem Post ist kein Einzelfall. Aber auch wenn die Schulleitung die Rechte von Jugendlichen verletzt, schaut das Kollegium über Jahre geschlossen weg. ↩